Was wäre gewesen, wenn...?
Horst Bote, einer meiner Lieblingsschriftsteller, nahm zu meiner großen Freude an meinem Projekt 'Parallele Leben - was wäre gewesen, wenn...?' teil und so entstand diese Zusammenarbeit. In diesem Projekt werden die Zuschauer aufgefordert, sich vorzustellen, wie ihr eigenes Leben verlaufen wäre, wenn sie in einem jüdischen Kulturkreis geboren worden oder in eine jüdische Lebenswelt hineingewechselt wären. Das Video visualisiert mit den Mitteln "digitaler arte povera" Horst Botes tief bewegende Liebesgeschichte 'Was wäre gewesen, wenn...'.
Zum Projekt "Parallele Leben - was wäre gewesen, wenn...?":
Während meines Germanistik- und Anglistikstudiums studierte ich zwei Semester lang Jiddisch, eine aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangene westgermanische Sprache, die aus hochdeutschen, hebräisch-aramäischen, romanischen und slawischen Elementen besteht.
Im Rahmen dieses Studiums erhielt ich ein Angebot mit Hilfe eines Stipendiums für längere Zeit Jiddisch in Oxford zu studieren, das ich ablehnte. Was wäre gewesen, wenn ich dieses Angebot angenommen hätte?
Würde ich heute Jiddisch in Oxford statt Medienwissenschaften in Hamburg unterrichten? Wäre ich Redakteur einer jiddischen Zeitung in New York geworden? Hätte ich eine andere Partnerin geheiratet und wäre vielleicht heute Teil einer jüdischen Gemeinde? Wäre ich in die Geschäftsführung der Firma meines Schwiegervaters eingetreten? Oder wäre ich so oder so in Hamburg gelandet, nur diesmal im heute wieder mit jüdischem Leben erfüllten Grindelviertel?
Und wie ist das mit Dir? Stell Dir vor: Wie hätte Dein Leben ausgesehen, wenn Du als Kind jüdischer Eltern geboren worden wärest - in Israel, in Deutschland, in den USA, in Osteuropa oder einem anderen Land? Wie wäre es gewesen, wenn die Liebe Dich zu einem Teil der jüdischen Kultur gemacht hätte?
Horst Bote
WAS WÄRE GEWESEN, WENN ...
An einem schmuddeligen Dezember-Abend bin ich auf ein Klezmer-Konzert gegangen. Es war übel voll, die Leute flippten aus auf die Musik. Dort lernte ich eine rothaarige Frau kennen, Typ „Milva“. Eigentlich stehe ich nicht auf Rothaarige, aber mit Susanna habe ich mich sofort super verstanden. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Vom ersten Augenblick an konnten wir über alles reden. Wir waren an dem Abend sehr ausgelassen, so wie die Musik. Nach dem Konzert haben wir dann noch oft miteinander telefoniert und uns tatsächlich wiedergesehen. Ein paar Wochen später waren wir ein Paar. Susanna kam wirklich aus Italien und landete nach dem Studium aus beruflichen Gründen in München.
Im folgenden August sind wir nach Venedig gefahren, ihre Heimatstadt. Und dort geschah es dann:
Wir waren in einem Viertel, in das sich so gut wie keine Touris verirren. Es war das alte jüdische Viertel. Susanna traute sich erst nicht, aber schließlich erzählte sie mir doch von ihrer jüdischen Familie. Ich hatte ja keine Ahnung! Dann zeigte sie mir das heutige Leben im jüdischen Viertel. Ich hatte ebenso keine Ahnung, dass die Venezianer damals für diesen Ort extra das Wort „Ghetto“ erfunden haben.
Leider sind wir heute nicht mehr zusammen. Immerhin habe ich viel von Susanna gelernt. Im Ghetto und auch danach. Über die Musik. Die Kunst. Und vor allem über die Liebe. Und dass die Dinge, die man wirklich „besitzt“, alle unverlierbar und unzerstörbar sind. Heute glaube ich, dass man kein Jude sein muss, um das irgendwann zu verstehen.
An schlechten Tagen vermisse ich sie immer noch so sehr, dass ich nicht weiß, wie ich es ohne sie aushalten soll. Fast alle anderen Frauen sind für mich irgendwie „ungetoastet“. (Ich sollte endlich mal mit diesen Vergleichen aufhören, ich weiß.) Aber an guten Tagen sitzt ein glücklicher Nerd in einer Münchner U-Bahn und lächelt wie ein Gestörter scheinbar grundlos vor sich hin, weil er in Gedanken an einem Brunnen im „Ghetto“ sitzt und dabei „Libertà“ von Milva laut vor sich hinsummt ... Mir doch scheißegal, wenn die Leute gucken.
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